Die Marien Apotheke, auch liebevoll Mariechen genannt, in der Schmalzhofgasse im 6. Wiener Gemeindebezirk lebt Inklusion. Dort arbeiten sowohl hörende als auch gehörlose Mitarbeiter*innen, denn sie ist auf die Beratung von Gehörlosen in Gebärdensprache spezialisiert. Dies war nicht von Anfang an so. 1909 wurde die Apotheke von Dr. Doris Schmatt eröffnet und wird heute von ihrer Enkelin, Karin Simonitsch, weitergeführt.
Im folgenden Beitrag erfährst du interessante Fakten über Gebärdensprache und erhältst Einblicke in den Arbeitsalltag der Mitarbeiter*innen in der bilingualen Apotheke.
Eine Reise zu den Anfängen
Im Jahr 2008 wurde der erste gehörlose Lehrling David Iberer zum Pharmazeutisch-kaufmännischen Assistenten ausgebildet. Wie es dazu kam „war eigentlich Zufall! Ein Freund erzählte mir, dass sein gehörloser Sohn David kaum Chancen auf eine adäquate Ausbildung hat. Ich habe daraufhin angeboten [ihn] auszubilden, wenn er an der Pharmazie interessiert ist. Und so ist es dann auch gekommen.“, erzählt die heutige Inhaberin Karin Simonitsch.
Der Anfang war gemacht. Eine pharmazeutische Beratung in Gebärdensprache konnte jedoch erst 2013, nach der Einstellung des ersten gehörlosen Apothekers Sreco Dolanc, angeboten werden. Von nun an konnten Gehörlose eine Beratung „zu Medikamenten und deren Einnahme, sowie zu Neben- und Wechselwirkungen in Gebärdensprache“ in Anspruch nehmen, so Karin Simonitsch. Oft können in diesem Zusammenhang auch Missverständnisse, die beispielsweise bei einem Arztgespräch entstanden sind, aufgeklärt werden.
Dieses Angebot ist bisher einmalig in Österreich. Doch nicht nur die Beratung vor Ort wurde dadurch möglich. Sreco produziert regelmäßig im Namen der Apotheke Infovideos zu allgemeinen Gesundheitsthemen, wie Sonnenschutz, Grippe oder Impfungen in Österreichischer Gebärdensprache (ÖGS) – mit deutschen Untertiteln, sodass sie auch für Hörende sehenswert sind.
Ein weiteres Angebot ist der barrierefreie Newsletter, der seit 2014 immer auch ein Video in ÖGS enthält. Auf dem YouTube-Kanal der Apotheke ist zudem eine spezielle Videoreihe zum Thema psychische Gesundheit zu finden.
Fragen an Sreco Dolanc
Du bist der erste gehörlose Apotheker in Österreich. Warum hast du dich für diesen Weg als Apotheker bzw. die Marien Apotheke entschieden?
Ich habe mich schon als Kind sehr für Pflanzen interessiert und ein naturwissen-schaftliches Studium war mein Traum. Trotz aller Kommunikationsbarrieren, die ich im Laufe der Ausbildung immer wieder zu überwinden hatte, konnte ich das Pharmaziestudium in Ljublijana erfolgreich abschließen, habe danach aber leider keinen Job in meinem Heimatland Slowenien gefunden.
Als ich gelesen habe, dass in der Marien Apotheke in Wien gehörlose Lehrlinge ausgebildet werden, war meine Neugier geweckt und ich bin kurzerhand nach Wien gereist, um mir die Apotheke anzusehen. Es hat mir sehr gefallen, alle Mitarbeiter*innen waren auf die Bedürfnisse Gehörloser sensibilisiert, es gab auch einige, die die Gebärdensprache konnten. Zufällig war auch die Chefin, Karin Simonitsch, da und ich habe sie gleich gefragt, ob sie sich vorstellen kann, mich einzustellen. Ihre Antwort war „Ja“ und ihre einzige Bedingung war, dass ich Deutsch lerne. Das habe ich also gemacht und habe kurz darauf als Apotheker in der Marien Apotheke begonnen!
Was bedeutet für dich Inklusion?
Hier in der Apotheke übe ich meinen Beruf genauso wie meine hörenden Kolleg*innen aus – ich arbeite im Labor und kann Kund*innen zu pharmazeutischen Themen beraten. Bei hörenden Kund*innen unterstützt mich meine Dolmetscherin, bei gehörlosen geht es natürlich ohne. Es ist für mich besonders wichtig und erfüllend, gehörlose Menschen in Gesundheitsfragen beraten zu können – ich weiß schließlich, wie wenig Information in Gebärdensprache zur Verfügung gestellt wird und welchen Nachteil Gehörlose dadurch haben. Das ist für mich Inklusion! Nämlich, dass ich einerseits barrierefrei meinen Beruf ausüben kann und andererseits auch für andere Gehörlose den Zugang zum Gesundheitssystem barrierefreier gestalten kann.
Wie erlebst du den Arbeitsalltag, den Menschen mit und ohne Gebärdenkenntnisse gemeinsam meistern bzw. bei dem Menschen mit und ohne Hörbeeinträchtigung beraten werden?
Mit meinen Kolleg*innen klappt die Kommunikation im Arbeitsalltag ganz gut – einige können gut gebärden, mit anderen kommuniziere ich manchmal auch schriftlich. Bei wichtigen Team-Besprechungen ist meine Dolmetscherin dabei. Die Beratung der Kund*innen ist immer spannend, Hörende sind dann oft auch an der Gebärdensprache bzw. der Dolmetsch-Situation interessiert, da kläre ich natürlich gerne auf. Unter Gehörlosen habe ich mittlerweile einige Stammkund*innen, die mich regelmäßig besuchen und sich beraten lassen.
Cornelia zeigt dir die Gebärde für “Immunsystem”:
Noch mehr Gebärden aus dem Apotheker-Alltag findest du hier.
Besondere Vorbereitungen
Da die Gesundheitsberatung bisher kaum barrierefrei zur Verfügung stand (und steht), fiel es nicht auf, dass für manche Begriffe keine speziellen Gebärden vorhanden waren, beispielsweise wurde nicht zwischen Gel und Salbe unterschieden. Daher entwickelte Sreco in den vergangenen Jahren mit einer Gruppe Linguisten an der Technischen Universität Wien eigene Gebärden, die er im Apotheker-Alltag benötigt.
Ein wichtiger Schritt war außerdem, das Vertrauen in der gehörlosen Gemeinschaft aufzubauen. Dies nahm einige Zeit in Anspruch und auch heute ist der Prozess noch nicht vollständig abgeschlossen. Mittlerweile hat sich das Angebot aber schon gut herumgesprochen und wird ebenso gut angenommen. Sogar gehörlose Touristen aus Australien seien schon in der Apotheke gewesen, verrät uns Karin Simonitsch.
Gerade auch in der aktuellen Corona-Pandemie erschwert das Tragen einer Maske die Kommunikation unter und mit Gehörlosen erheblich. Zum Glück gibt es für solche Fälle einen transparente Mund-Nasen-Schutz, der auch in der Apotheke zum Einsatz kommt.
6 Fakten über Gebärdensprache
- Seit 2005 wird die Österreichische Gebärdensprache (ÖGS) offiziell als eigenständige Sprache anerkannt
- Jeder Sprachraum hat seine eigenen Gebärden, so gibt es beispielsweise die Österreichische Gebärdensprache (ÖGS) und die Deutsche Gebärdensprache (DGS). Auch innerhalb eines Landes gibt es regionale Unterschiede, sogenannte Dialekte
- Gebärdensprache ist nicht einfach eine Zeichensprache, sondern hat ihre eigene Grammatik
- Worte werden aus einer Kombination von Handform bzw. -bewegung in einer bestimmten Position, Gesichtsausdruck und Mundbewegung gebildet
- Nicht alle Gehörlosen können Lippenlesen , im Durchschnitt werden nur 30% des Inhalts über das Lippenlesen verstanden
- Deutsch in Schriftform ist für Gehörlose eine Fremdsprache, die extra erlernt werden muss
Besondere Aktionen
Einen positiven Effekt auf das Vertrauen haben mit Sicherheit die vielfältigen Aktionen, die sich die Marienapotheke immer wieder für ihre Kund*innen überlegt.
Eines davon ist das monatliche Xundheitspackerl, das es bereits seit 10 Jahren gibt. Die Idee dahinter ist “monatliche kleine Kundengeschenke zu kreieren, die in einem Überraschungspackerl daherkommen”, erklärt die Inhaberin. Dabei soll sich kein Inhalt wiederholen. Zudem besteht damit die Möglichkeit Kooperationspartner vorzustellen. Auch die Müsliriegel von VOI fesch waren schon dabei.
Ab und an finden spezielle Aktionen für Gehörlose statt, wie beispielsweise ein Kräuter-Workshop für gehörlose Kinder, der gemeinsam mit dem Verein Kinderhände veranstaltet wurde.
Du möchtest noch mehr über die Projekte der Marienapotheke erfahren? Klick dich doch mal durch die Neuigkeiten, dort kannst du dir die Xundheitspackerl der letzten Monate sowie weitere Projekte anschauen.
Unter den 40 Mitarbeiter*innen befinden sich gehörlose Pharmazeutisch-kaufmännische Assistent*innen, Mitarbeiter*innen, deren Eltern gehörlos sind sowie hörende Mitarbeiter*innen, die sich auf Grund ihrer Tätigkeit einen bestimmten Grundwortschatz angeeignet haben. Zu letzterer Gruppe gehört auch Jürgen.
Fragen an Jürgen Königshofer
Ist es dir schwer gefallen Gebärdensprache zu erlernen?
Ich habe leider nie die Zeit gefunden, einen offiziellen Kurs zu besuchen, sondern habe ÖGS hauptsächlich von meinen gehörlosen Kollegen gelernt. Apotheken-intern funktioniert das sehr gut. Ich habe immer mehr Gebärden gelernt, die ich in der Apotheke brauche und so ist mit der Zeit mit Spaß und Interesse ein kleiner, aber hilfreicher Wortschatz entstanden.
Auch die “normale” Beratung von gehörlosen Kund*innen geht auf diese Art gut – wenn es zu sehr ins Detail geht, fehlen mir aber die Vokabel, dann muss Sreco aushelfen. In der Regel berät er alle gehörlosen Kund*innen – die meisten kommen auch zu seinen Arbeitszeiten. Nur, wenn er gerade wirklich keine Zeit hat oder nicht da ist, helfe ich aus. Manchmal wissen gehörlose Kund*innen, die mich schon kennen, auch, dass meine ÖGS-Kenntnisse für ihr Beratungsgespräch ausreichen und sie bleiben dann bei mir.
Viele Gehörlose geben sich auch sehr Mühe und gebärden dankenswerterweise langsamer und deutlicher, um mich nicht zu überfordern, wenn sie meine Kund*innen sind. Umgekehrt kommt es auch mir oft vor, dass viele sehr dankbar sind, wenn man in ihrer Sprache mit ihnen kommuniziert bzw. zu kommunizieren versucht.
Was hat sich in deinem Alltag außerhalb der Apotheke verändert, seit du dort arbeitest?
Ich nehme gehörlose Menschen viel bewusster und öfter wahr – es fällt mir eher auf, wenn jemand in der Öffentlichkeit gebärdet. Mir ist nun auch bewusster, dass der Alltag Nicht-Hörender oft schwerer ist. Auch von CODA-Kolleg*innen (Child of Deaf Adult – Hörende mit gehörlosen Eltern) weiß ich das. Wenn sie sich zum Beispiel freigenommen haben, wenn ein gehörloser Elternteil zum Arzt oder Amt muss. Einmal konnte ich in meiner Freizeit sogar als Dolmetscher fungieren und helfen – abseits meiner Kernkompetenz Apotheke in einem Bauhaus.
Die Marienapotheke leistet durch ihr barrierefreies Beratungsangebot, ihre Projekte und ihr eingespieltes Team einen großen Beitrag zur Inklusion. Dennoch gibt es in Zukunft noch vieles in diese Richtung zu tun.
Zum Abschluss gibt es noch 4 hilfreiche Tipps für das Kommunizieren mit einer gehörlosen Person.
4 Tipps für das Kommunizieren mit einer gehörlosen Person
- langsam und deutlich sprechen (lautes Sprechen oder Schreien hilft nichts)
- Mimik und Gestik verwenden
- guter Blickkontakt
- Dinge aufschreiben